Interview mit dem Berliner Anwalt des Whistleblowers

8. Februar 2014

von Julia Prosinger und Norbert Thomma, Tagesspiegel

In den USA gilt er als Landesverräter, nun sitzt er in Moskau fest. Die Zukunft des Whistleblowers Edward Snowden ist offen. Klar ist nur, er wird gute Anwälte brauchen. In Deutschland vertritt ihn ab sofort Wolfgang Kaleck - ein renommierter Menschenrechtler aus Berlin. Das exklusive Interview.

Herr Kaleck, Sie waren gerade drei Tage in Moskau, um Ihren Mandanten Edward Snowden zu sehen. Für ihn interessieren sich weltweit Geheimdienste. Verläuft so ein Treffen wie im Spionage-Thriller?

Weit weniger filmreif, als Sie sich das vorstellen. Wir waren mit einem internationalen Anwaltsteam in Russland, ich bin dabei von Herrn Snowden als Anwalt für seine deutschen Angelegenheiten bevollmächtigt worden.

Sie müssen ja selbst lachen.

Weil auch ich Krimis lese und anschaue, und man fantasiert sich da vorher schon Situationen zusammen. Selbstverständlich ist das unter den gegebenen Umständen kein übliches Mandantengespräch.

Und doch war das Setting weit weniger aufregend als die eigenen Projektionen zuvor. Es gab letztlich viel sachlich zu besprechen.

Lädt Snowden seine Anwälte nach Hause ein?

Über die näheren Umstände reden wir selbstverständlich nicht.

Die ARD zeigte kürzlich ein Interview, in dem Snowden ungeheuer besonnen wirkte, sogar mit einem Hauch Selbstironie, überhaupt nicht wie ein politischer Eiferer. Wie haben Sie ihn erlebt?

Ich traf eine beeindruckende Person. Ein scheinbar unscheinbarer Mensch, der auf den ersten Blick nicht den Charme und das Charisma eines Volksredners hat, der sich dann als sehr wach entpuppt, wissbegierig, engagiert. Ein scharfsinniger und kluger Beobachter. Man merkte in jedem Moment der Gespräche, es geht ihm nicht um sich selbst als Person, nicht um seine Interessen, seine Bedürfnisse, sein Ego. Es geht ihm um die Sache, er kritisiert die unkontrollierte und illegale Überwachung durch die Geheimdienste. Punkt. Darin ist er kundig, und diese Kritik möchte er unter die Leute bringen, in der Hoffnung, dass sich dadurch die Zustände verbessern.

Das heisst?

Demokratische und justizielle Kontrolle der Geheimdienste. Schluss mit den illegalen Praktiken. Nicht alles, was technisch möglich ist, darf auch gemacht werden. Diese Themen sind ihm von überragender Bedeutung. Er verdient hohen Respekt, es geht ihm ja gerade nicht um sein eigenes Wohl. Er hat nichts verkauft, er hat nichts gewonnen. Er tut das alles um den Preis der eigenen beruflichen und persönlichen Existenz. Ich empfinde es auch als Ehre, für ihn arbeiten zu dürfen, auf so einen Menschen stösst man nicht allzu oft.

Snowden ist 30, er sitzt in Russland fest, wo er bis Mitte dieses Jahres noch Asyl hat, seine Familie kann er nicht besuchen. Geht's ihm gut?

Mein Gefühl ist, er geht seinen Weg. Er braucht viel Unterstützung, er wünscht sich viel Unterstützung, aber mehr für die Sache als für sich selbst. Er fordert – gerade von uns Europäern: Redet über Whistleblower insgesamt, redet über ihren Schutz, gebt ihnen einen besseren rechtlichen Status!

Sympathie ist keine juristische Kategorie, trotzdem: Wie fanden Sie ihn menschlich?
Es könnte mir als Anwalt wurst zu sein, aber ja: Er war mir sympathisch. Trotz seiner Prominenz schien er unprätentiös.

Snowden hat kein Einkommen. Eine Zeitlang hiess es, er würde für eine russische Website arbeiten.

Davon weiss ich nichts. Er hat sein Material an Journalisten gegeben, die sollen nun recherchieren und die Dateien auf Relevanz prüfen. Erst wenn etwas veröffentlicht wird, nimmt er dazu Stellung und kommentiert es. Wenn es in den Medien "Die neue Snowden-Enthüllung" heisst, dann ist das nicht ganz richtig, er hat auf die Entscheidung von Journalisten keinen Einfluss.

Er hat sein Soll erfüllt.

Klar hat er das. Er hat ein hohes Risiko in Kauf genommen und eine historische Debatte angestossen. Aber: Wenn es ihm von den politischen Entscheidungsträgern möglich gemacht wird, kann er in deutschen oder anderen europäischen Ausschüssen und juristischen Verfahren aussagen, auch in Brasilien – überall wäre er der sachverständige Zeuge: "Ja, das Material ist authentisch, das muss so oder so gelesen und interpretiert werden." Es gab immerhin auch schon spektakuläre Missverständnisse, in Frankreich wurde die Zahl der Überwachungsvorgänge viel zu hoch eingeschätzt. Snowden kann diese Dokumente erklären.

Die Zahl der von Snowden entwendeten Dokumente kennt nicht mal die NSA. Hat er einen Überblick?

Darüber wurde nicht gesprochen. Mich interessiert der Vorgang eher in seiner historischen Dimension, weil er es geschafft hat, das Thema Überwachung weltweit auf die Agenda zu setzen. Das ist sein Verdienst. Wer vorher von Überwachung in einem solchen Ausmass geredet hat, ist doch in die Ecke der Verschwörungstheoretiker und Paranoiker gesteckt worden. Durch ihn lässt sich das jetzt auf Basis von Fakten völlig neu diskutieren. Wir reden nun auch ganz anders über die Macht des Internets. Beides ist nicht mehr zurückzuholen, das hat sich weit über seine Person hinaus entwickelt.

Ist Edward Snowden in Russland sicher?

Snowden hat sogar die industriellen Interessensverbände aufgeschreckt, sie fürchten massiv Spionage. Die "SZ" zitierte gerade den BDI-Geschäftsführer Markus Kerber: "Die NSA-Affäre war der Sputnikschock für die deutsche Wirtschaft."

Genau das wollte er auslösen. Er wollte diese vielfältige und facettenreiche Debatte, die ja gerade erst begonnen hat.

Sie sagten, Snowden könnte vor Ausschüssen als Zeuge auftreten. Das ginge ohne Risiko für ihn?

Im Moment bietet ihm Russland einen sicheren Hafen, es gibt keine Veranlassung anzunehmen, dass sich das ändert. Dieser Aufenthalt gibt ihm derzeit keine Möglichkeit, in der Welt herum zu reisen, das ist bei einem Asylantragsteller in Russland nicht anders als in Deutschland. Seine Verfolgungssituation könnte einige Zeit, ja viele Jahren andauern, so lange, wie die Strafverfolgungsbehörden und die Regierung der USA auf ihrer Position beharren, Snowden habe sich strafrechtlich wegen Spionage zu verantworten. Das muss nicht ewig so bleiben.

Snowden selbst geht schon davon aus, dass er noch lange in Russland festsitzt?

Im Moment geht niemand von nichts aus, die Situation kann sich in viele Richtungen verändern, und man muss für alle Alternativen gewappnet sein. Das ist er wohl.

Der Grünen-Abgeordnete Hans-Christian Ströbele hat Snowden besucht und gefordert, Deutschland solle ihn aufnehmen.

Snowden ist kein Staatsfeind, sondern im Gegenteil ein Staatsbürger, der Missstände in einem Land anprangert, das sich als demokratisch und verfassungsgemäss versteht: seine Heimat USA. Die EU hat 2012 den Friedensnobelpreis bekommen, stünde es ihr da nicht gut zu Gesicht, diesem Menschen einen sicheren Aufenthalt zu gewähren? Bisher fehlt dazu der politische Wille, auch hierzulande. Ich rede da nicht von Unterstützern oder Leuten in der Opposition, die sind ehrenwert und wichtig, sondern von mutigen Regierungen, ich rede ausdrücklich nicht nur von der deutschen. Es muss doch möglich sein, in einem demokratischen Rechtsstaat Menschen zu schützen, die Gesetze brechen, um schwerwiegende Gesetzesbrüche aufzudecken und um anderer Prinzipien willen. Snowden hat ja keine Atomgeheimnisse verraten oder Waffentechnologien, sondern rechtswidrige Praktiken aufgedeckt, rechtswidrig in den USA und auch bei uns. Da kann man nicht nur sagen: Da muss er durch!

"Allein es fehlt bisher der politische Wille"

Ginge es mit dem Asyl so einfach?

Juristisch gäbe es Möglichkeiten, ihm Aufenthalt zu gewähren. Die USA haben einen Haftbefehl gegen ihn erlassen und werden seine Auslieferung von dem Land fordern, das ihn beherbergen wird. In Deutschland haben wir ein zweistufiges Auslieferungsverfahren: Zunächst entscheidet ein Oberlandesgericht und in letzter Instanz das Bundesverfassungsgericht, daneben hat die Regierung das Auslieferungsbegehren zu prüfen und entscheidet dann eigenständig.

Der Illustrierten "Stern" hat Snowden am Jahresende geschrieben, ja, Deutschland sei eine akzeptable Lösung.

Ich sehe Deutschland sogar in der Pflicht, weil es von ihm profitiert hat. Wie es aussieht, wird der Bundestag bald einen Untersuchungsausschuss zur Spähaffäre einrichten. Die Bundesanwaltschaft denkt darüber nach, ob aus dem Prüfvorgang zur Massenüberwachung und dem Ausspähen des Handys der Kanzlerin und ihres Vorgängers ein formelles strafrechtliches Ermittlungsverfahren wird. Es wird in Zukunft Veränderungen geben müssen, nicht nur was die Überwachung von Geheimdiensten angeht, auch die Sicherheit privater oder wirtschaftlicher Daten. Wir alle profitieren davon!

Ohne das Merkel-Handy und jetzt noch das von Ex- Kanzler Schröder wäre das Aufsehen weniger gross.

Puuh, die Kanzlerhandys. Sie haben der Sache eine grössere Prominenz verliehen, doch sie sind nicht das wichtigste Detail.

Dass Snowden ausgerechnet einem deutschen TV-Sender das erste Interview gibt, war Kalkül?

Dem sollten Sie keine Bedeutung beimessen.

Edward Snowden sitzt in Moskau fest, Sie sind Anwalt in Berlin. Wie sind Sie beide denn zusammen gekommen?

Der federführende Anwalt des Teams ist Ben Wizner von der American Civil Liberties Union (ACLU) in New York, mit denen arbeite ich seit einem Jahrzehnt zusammen, etwa in dem CIA-Entführungsfall Khaled al Masri.

Wie viele Anwälte sind mit Snowden beschäftigt?

Die ACLU ist die grösste Bürgerrechtsorganisation der USA und damit der Welt, da arbeiten rund 1000 Leute. Es geht, unter anderem, darum zu sondieren: Gibt es eine Chance der Rückkehr in seine Heimat für ihn?

In der Talk-Sendung "Günther Jauch" hat der ehemalige US-Botschafter John Kornblum gemeint, in zehn Jahre lebe Snowden wieder in den USA.

Das ist eine von vielen Möglichkeiten und keine schlechte, wenn damit ein Leben in Freiheit gemeint ist.

"Geld ist im Moment nicht seine grösste Sorge"

Auch lateinamerikanische Länder wie Ecuador und Venezuela bieten sich für Snowden an…

… weil dort Regierungen an der Macht sind, die mit Whistleblowern sympathisieren. Leider oft nur, solange sie nicht die eigenen Interessen verletzen. Die Frage ist nur, wie er dahin kommt. Und dann könnte es andere Probleme geben.

Zum Beispiel?

Er wäre schwer, ihn dort rein physisch zu schützen. Und wenn er von dort auf rechtmässige oder rechtswidrige Weise in die USA verbracht würde, ist ausserdem fraglich, ob er ein faires Verfahren bekäme. In den USA wäre er möglicherweise Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt, es gibt dort noch die Todesstrafe und unverhältnismässig hohe Freiheitsstrafen. Chelsea Manning...

…die – damals hiess sie noch Bradley Manning – als Gefreiter Videos zu US-Kriegsverbrechen öffentlich machte und nun unter anderem für „Kollaboration mit dem Feind“ 35 Jahre Haftstrafe verbüsst…

…litt unter Haftbedingungen, die der UN-Sonderberichterstatter für Folter in seinem Bericht menschenrechtswidrig nannte. Manning war in Isolationshaft, musste sich mehrfach am Tag nackt ausziehen. Das ist im Grunde Folter, um Aussagen zu erzwingen. Manning ist das Menetekel!

Was können Sie von Berlin aus für Snowden tun?

Ich vertrete ihn als Zeugen bei der Bundesanwaltschaft in Karlsruhe und werde dasselbe vor einem Untersuchungsausschuss des Bundestages tun. Dann werden wir seine Situation juristisch genau analysieren und beobachten, das ist ja kein statischer Zustand. Wo ist was möglich, woher drohen welche Gefahren? Wo haben seine Enthüllungen welche Wirkung? Diese Veränderungen muss man immer wieder mit ihm rückkoppeln.

Snowden hat angedeutet, verschiedene Personen aus den USA bedrohten sein Leib und Leben. Zeigte er sich besorgt?

Nein.

Hinter Snowden sind nicht nur US-Geheimdienste her. Sie können nicht davon ausgehen, dass Sie ganz unüberwacht zu Snowden nach Moskau reisen.

Wir mussten als Anwälte wie in anderen brisanten Fällen besondere Vorsicht an den Tag legen. Da war nichts zu sehen: Entweder wir haben uns zu wichtig genommen, oder sie haben es gut gemacht.


Und wenn hier unten vor Ihrem Büro auf der Zossener Strasse längere Zeit ein Kastenwagen parkt…

…würde mir das nicht auffallen. Im Ernst, ob ich etwas zum deutschen Asylrecht sage oder ein Jurist des Max-Planck-Instituts, wir beide verrieten da keine Geheimnisse. Mit den heiklen Stoffen, also mit den Dokumenten, haben wir Anwälte nichts zu tun.

"Es wird uns immer vermittelt, man könne als einzelner Mensch nichts tun"

Anwälte kosten Geld, und Snowden hat keines.

Das ist im Moment nicht seine grösste Sorge. Ich hatte eher den Eindruck, seine Sorge gilt der Sache der Whistleblower, auch wenn es nicht unredlich wäre, auch an sich selbst zu denken. Doch sein Weg des vergangenen halben Jahres war ja kein egoistischer.

Im Hauptjob sind Sie Generalsekretär des ECCHR – einer Organisation, die versucht, Menschenrechte mit juristischen Mitteln durchzusetzen. Snowden soll erst ein Prozent seines Materials preisgegeben haben, konnten Sie davon etwas für Ihre Arbeit nutzen?

Nein. Derzeit arbeiten wir nicht zum Thema Überwachung. Allerdings konnten wir einige Veröffentlichungen von Wikileaks nutzen. Unser Schwerpunkt ist es, die Strafverfolgung von Menschenrechtsverbrechen zu forcieren. (Mehr über das ECCHR lesen Sie hier.) Diktatoren, Kriegsverbrecher und ihre Helfershelfer reisen irgendwann nach Deutschland oder in benachbarte europäische Länder. Also versuchen wir Dossiers zusammenzustellen, in denen wir die Tatvorwürfe gegen sie sowohl faktisch als auch rechtlich aufarbeiten, um dann im Falle einer Einreise Staatsanwälte davon zu überzeugen, dass sie strafprozessuale Massnahmen wie Befragungen oder gar Festnahmen einleiten. Das beste Beispiel ist der chilenische Diktator Augusto Pinochet, den man 1998 in London festnehmen konnte, weil der spanische Richter Baltasar Garzón so ein Dossier zur Verfügung hatte.

Jetzt berät genau dieser Garzón Julian Assange juristisch, der in London in der ecuadorianischen Botschaft festsitzt. Tut sich da eine neue politische Phalanx auf, etablierte Juristen zusammen mit Computer-Nerds und Hackern?

Als Otto Schily nach dem 11. September 2001 die Anti-Terrorismusgesetze verschärfen wollte, haben wir vom Republikanischen Anwältinnen- und Anwaltsverein gemeinsam mit anderen Gruppen dagegen mobilisiert. Eine davon war der Chaos Computer Club. Ich habe dort politisch sehr bewusste Menschen getroffen, die viel für den Schutz von Bürgerrechten getan haben. Interessant ist doch, dass uns immer vermittelt wird, man könne als einzelner Mensch nichts tun angesichts der Übermacht des Staates und der Geheimdienste. Dass deren Handeln so unabänderlich ist wie Naturgewalten. Die aktuelle Situation um Snowden zeigt uns, dass Geschichte immer noch von Menschen gemacht wird, gemacht werden kann.

Dieses Mandat ist attraktiv. Es wird Sie über die Szene der Menschenrechtler hinaus bekannt machen.

Nicht, dass das kein spannender Fall wäre. Aber die anderen sind nicht weniger interessant: Wir haben im Januar britische Militärs und Politiker vor dem Internationalen Strafgerichtshof angezeigt, weil die Briten im Irak Hunderte von Kriegsgefangenen gefoltert haben. Wir setzen uns in Pakistan für die Opfer des Brandes einer Textilfabrik in Karachi ein, 250 Menschen starben da, auch KIK liess dort unter verheerenden Arbeitsbedingungen für den hiesigen Markt produzieren. Diese Sachen halten wir für ebenso abscheulich wie die massenhafte Überwachung, auf die Snowden aufmerksam macht.

Sie waren für die afghanischen Kundus-Opfer im Strafverfahren gegen Oberst Klein aktiv und sind unterlegen. Sie waren jüngst in der Schweiz, um Nestlé wegen Ermordung kolumbianischer Gewerkschafter vor Gericht zu bringen. Auch diesen Fall werden Sie kaum gewinnen. Was treibt Sie an?

Nicht ich werde da aktiv, sondern wir, ein engagiertes Team. Allein kann das keiner leisten. Viele junge Leute, auch von ausländischen Universitäten, arbeiten freiwillig bei uns mit…

…und wissen Sie, warum?

Na klar, man hat hier das Gefühl, sich für die richtige Sache einzusetzen, was ein Privileg für Juristen ist.

Arbeit in der Wohlfühlzone.

Ich habe keine Lust, mir solche Etiketten aufkleben zu lassen. Mir geht es darum, was wir mit unserem Leben und unserer Arbeitskraft anfangen. Wohlfühlzone? Wenn man sich tagein, tagaus mit Menschen beschäftigt, die gefoltert wurden, muss man das auch emotional verarbeiten. Jeder von uns muss sich ständig fragen: Wie viele solcher Berichte kann ich mir anschauen, wie viele kann ich mir zumuten? Ich mache das schon lange, und dann heisst es: guck dir mal dieses Video an. Und dann ist das ein Video über Vergewaltigungen in Sri Lanka - und plötzlich ist der Tag kein Tag mehr. Dann merke ich, ich bin immer noch verletzbar.

Das verfolgt Sie.

Es kann passieren, dass ich im Kino sitze, der Film zeigt Szenen von Gewalt – und ich muss raus. Ich kann nicht mein ganzes Leben mit solchen Bildern im Kopf verbringen.

Gibt es einen Lieblingsschurken?

Eine Zeitung hat Sie mal einen "Überzeugungstäter" genannt, Sie gelten als sehr guter Jurist. Wenn dann doch wieder ein Gericht gegen Sie entscheidet, empfinden Sie das als Demütigung?

Der Begriff ist mir noch nie in den Sinn gekommen. Es sind vorübergehende Rückschläge, ja. Wie bemisst man Erfolg? Doch nicht nur darin, wie ein Richter urteilt. Wir wollen ja auch Unrecht sichtbar machen. Derzeit bereiten wir Fakten zu Massenvergewaltigungen in Kolumbien auf, quer durch alle Kriegsparteien. Wenn wir das – hoffentlich in diesem Jahr – vor den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag bringen, müssen wir juristisch sehr präzise argumentieren. Genauso wichtig ist aber, dass von den internationalen Strafrechtlern und der Öffentlichkeit wahrgenommen wird, in welchem Masse sexualisierte Gewalt in fast allen Konflikten benutzt wird, und dass diese Verbrechen meist straflos bleiben. Man braucht da einen langen Atem und muss in kleinen Schritten denken, sonst wird man zynisch.

Sie haben nie konkrete Erfolge?

Doch. Ein aktuelles Beispiel: Wir haben letzten Sommer ein Rechtsgutachten über General Freddy Padilla, den kolumbianischen Botschafter in Österreich, angefertigt und die Regierung in Wien aufgefordert, ihn zur persona non grata zu erklären. Er war in Kolumbien verantwortlich für die massenhafte Tötung von Zivilisten. Wenige Woche nach unserer Initiative gab er seinen Posten auf und kehrte nach Bogotá zurück. Vorher sind wir in ähnlicher Weise gegen zwei sri-lankische Generäle vorgegangen. Die waren verantwortlich für blutige Verbrechen in der Tamilenregion und dennoch Diplomaten in Deutschland, der Schweiz und Grossbritannien. Beide mussten Europa verlassen, einer darf nun nicht mal mehr in die USA und nach Australien reisen. Nicht, dass uns das reichen würde, aber solche Aktivitäten zeigen ihre Wirkung, zumal das nicht irgendwelche Leute sind, sondern in ihren Heimatländern mächtige Personen. Unsere Hoffnung ist, dass die europäischen Aussenministerien künftig gleich genauer prüfen, wer als Botschafter akkreditiert wird und wer nicht.


Gibt es einen Lieblingsschurken, den Sie sich gerne mal schnappen würden?

Nee, im Gegenteil. Ich ziehe keine Befriedigung daraus. Ich arbeite mich nicht an Einzelnen ab, sondern an einer Struktur. Ein Freund in den USA erzählte mir, wie er Donald Rumsfeld, lange nach seinem Rücktritt als Verteidigungsminister, als alten Mann mit einer verbeulten Aktentasche an der Bushaltestelle gesehen hat, angeschlagen, nicht mehr mit den Insignien der Macht versehen. Das habe ich unberührt zur Kenntnis genommen. Nein, der soll nach Europa reisen und dann festgenommen werden.

Auch Sie sind gegen Rumsfeld vorgegangen, Ihre Strafanzeigen waren 500 Seiten dick. Wie lange beschäftigt das Ihr Team?

In der Addition Jahre an Arbeitsstunden, finanziell ist das ein Millionenprojekt. Wobei die meiste Arbeit freiwillig geleistet wurde. Ich allein war sicherlich acht Monate beschäftigt, dazu Dutzende von deutschen und US-Anwälten, Studenten und Professoren. Auch Militär- und Geheimdienstexperten haben uns beraten.

"Es gibt viele Zyniker, die uns sagen, es sei sinnlos"

Ihre Vorwürfe gegen Rumsfeld waren heftig.

Es ging um systematische Folter – wie auch in unserem aktuellen Fall gegen die Briten. Es wurde ja so getan, als wären die Misshandlungen in Abu Ghraib von einigen „rotten apples“ begangen worden. Doch es war ein geplantes System von Folter, vom Irak über Guantánamo bis Afghanistan, in Gang gesetzt eben auch von hochrangigen Generälen bis hin zu Rumsfeld. Juristisch sind das Kriegsverbrechen, strafbar nach deutschem und US-Strafrecht und auch nach dem Statut des Internationalen Strafgerichtshofs. (Mehr zum Völkerrecht finden Sie hier.) Es gibt viele Zyniker, die uns sagen, es sei sinnlos, auf Mächtige loszugehen, das Rechtssystem sei ohnehin korrupt. Da ist es doch gut zu sehen, wenn ein Rumsfeld in seiner ganzen Arroganz einen Moment innehält und sagt: Wie kann es sein, dass in Deutschland ein Strafverfahren gegen mich anhängig ist? Ich besuche dieses Land so lange nicht, bis die Sache vom Tisch ist.

Sie sind in den 70er Jahren im katholischen Rheinland, in Jülich bei Aachen, aufgewachsen. Was hat Sie geprägt?

Früher hätte ich ironisch gesagt: Der Weltgeist ist in mich gefahren. Inzwischen glaube ich, eine grosse Rolle spielten meine Eltern. Sie sind beide Flüchtlinge, meine Mutter kommt aus Rumänien, mein Vater aus Königsberg, heute Kaliningrad, die haben aber nie revanchistisch gedacht. Sie waren klar gegen Nationalsozialismus und Krieg, führten ein offenes Haus. Da sass immer mal ein Ägypter oder Inder auf dem Sofa, Kollegen meines Vaters, der Physiker in einem grossen Forschungszentrum war. Fremde Kulturen und Religionen waren zu Gast bei Familienfesten, da gab es interessante Diskussionen.


Freunde und Kollegen beschreiben Sie als besessenen Leser. Waren Sie das damals schon?

Oh ja, „Die Ermittlung“ von Peter Weiss, die aus Protokollen des Auschwitz-Prozesses komponiert ist, Autoren aus der Weimarer Zeit, Oskar Maria Graf, Ernst Toller, Lion Feuchtwanger, Brecht, Tucholsky – auch die Geschichten des Spanischen Bürgerkrieges, das alles gehört zu meinem politischen Fundament.

Koch oder Musiker zu werden soll ein Traum von Ihnen gewesen sein.

Ich mag es, wenn sich Ernsthaftigkeit und Lebensfreude mischen, ich bin kein Asket. Weltreisender zu werden war ein grosser Wunsch. Viele Reisen habe ich lesend vorweg genommen. Nach Anna Seghers Migrationsroman "Transit" und Jean- Claude Izzos Krimi-Trilogie fuhr ich nach Marseille, wollte den Ort der Handlung kennen lernen. So ging es mir mit New York, Indien, Südafrika, immer waren da zuerst die Bücher und die durch sie geschaffenen Bilder in meinem Kopf, und wenn ich dann ankam: déjà-vus.

Was war das wichtigste Buch für Sie?

Bruce Chatwin, "In Patagonien". Seinetwegen bin ich dorthin gereist, bin in Argentinien hängen geblieben und habe wenig später die Fälle gegen argentinische Generäle übernommen, vielleicht sitzen wir nur wegen dieses Buches zusammen.

"Ich fühle mich in Kreuzberg wohl und zuhause"

Nach dem Abitur haben Sie erst mal Bundeswehr und Zivildienst erledigt. Vertane Zeit?
Nein, eine wichtige Schule. Als Abiturient hatte ich wenig Lebenserfahrung. Dort habe ich gelernt, mich nicht unterbuttern zu lassen, Konfrontationen nicht auszuweichen, Autoritäten anzugehen. Nach einer Woche in Uniform hab' ich die Annahme des Gewehrs verweigert und mich mit einer Mischung aus Provokationslust und politischem Widerstand gewehrt: Ich habe beim Exerzieren den Helm fallen lassen, im Unterricht gefragt, warum Franzosen in Algerien foltern und Amerikaner in Vietnam Napalmbomben werfen. So ein bisschen Quatsch brachte alles durcheinander. Dann im Zivildienst drückte man mir gleich am ersten Tag einen Zettel in die Hand, da, geh zur Frau Soundso, Domstrasse 92 in Köln, die hat Multiple Sklerose...

…und das klappte?

Ich war oft überfordert, doch ich kam mit den Patienten gut zurecht. Das war die Idee hinter meinem späteren Jurastudium: mit Menschen zu tun zu haben, ohne dass mir Bürokraten im Genick sitzen. Gesetze sind ja nicht gleichbedeutend mit Gerechtigkeit, viele sind reformbedürftig. Dennoch nutze ich die Logik des Rechts, um anderen zu helfen. Diese positive Schizophrenie beseelt mich bis heute. An der Uni Bonn gab es damals die DKP, den KBW, Verbindungen, Jung-CDUler, Trotzkisten… Ich war nie Mitglied einer Partei, ich bin bis heute ein unabhängiger Linker.

Ein Kreuzberger, seit 1988.

Das ist kein Zufall, ich wohne hier, ich arbeite hier, ich fühle mich in Kreuzberg wohl und zuhause. In einer anderen europäischen Stadt wäre das ECCHR nie möglich gewesen, viel zu teuer. Wir reden zwar viel von Gentrifizierung, und die gibt es tatsächlich, aber daneben findet man in Berlin viele Menschen, die sich mit den Zuständen nicht abfinden, denen materieller Wohlstand nicht über alles geht, die andere solidarisch unterstützen.

Ihre Kanzlei haben Sie nach der Wende trotzdem in Mitte aufgemacht.

Justament im Sitz der SED-Kreisleitung, Friedrichstrasse, da stand noch das Originalmobiliar drin. Drei Zimmer haben wir mit DC-Fix und Kunstwerken verschönert, dann ein Schild an die Tür gemacht wie ein Detektiv im Kriminalroman und gewartet, wer kommt. Unsere Mandanten waren Leute vom Neuen Forum, Stasi-Aufklärer, Hausbesetzer, Totalverweigerer, eben quer durch die sozialen Bewegungen Ostdeutschlands. Ich bin viel durch die neuen Länder gereist.

Und?
Sehr widersprüchlich, von Ort zu Ort unterschiedlich. Halle empfand ich als nett, selbstverwaltete Hausprojekte, da bin ich gern einen Abend vor der Gerichtsverhandlung angereist. Magdeburg war die schockierendste Stadt nach Guatemala-City, wo ich Folteropfer der Militärjunta getroffen habe. Wie offen Neonazis in Magdeburg agieren konnten, habe ich nie für möglich gehalten. Anfang der 90er hat unsere Kanzlei die Opfer eines Überfalls auf eine Punkerfete vertreten, die auf den Elbterrassen gefeiert und gesoffen hatten. Neonazis griffen sie mit Baseballschlägern an und schlugen gezielt auf Köpfe. Zehn Köpfe sind aufgeplatzt, einer ist richtig zerplatzt – der Mann war tot. Die Polizei ist nicht eingeschritten, hat gar nicht erst versucht, irgendwas aufzuklären. Im Gerichtssaal zeigten die Uniformierten deutlich mehr Sympathie für die Totschläger mit Glatzen als für die Punker.

"Deutschland eine führende Rolle gespielt"

Heute beschäftigen Sie sich beim ECCHR mit Fällen von internationaler Dimension. Der US-amerikanische Anwalt Peter Weiss nennt das deutsche Recht "das beste der Welt".
Nach dem Prinzip der universellen Jurisdiktion kann auch Deutschland strafverfolgen, wenn ein amerikanischer Geheimdienstler einen irakischen Staatsbürger im Irak misshandelt. Als das Statut des Internationalen Strafgerichtshofs 1998 in Rom ausgearbeitet wurde, hat Deutschland eine führende Rolle gespielt. Die Deutschen sagten sogar, wir können nicht alles Den Haag überlassen. Auch in unserem nationalen Recht müssen Völkermord, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit strafbar sein. Das Völkerstrafgesetzbuch trat 2002 in Kraft und wurde in ein Dutzend anderer Sprachen übersetzt. Eine gute Sache, die wollte man natürlich eher ins Schaufenster stellen und den Chinesen, Algeriern und Kongolesen zeigen, wie toll sich Deutschland für Menschenrechte einsetzt. Anwenden wollte man es nicht unbedingt. Unsere Regierung hat schön geguckt, als wir den Versuch mit der Strafanzeige gegen Rumsfeld starteten – und dann Gründe gefunden, die Strafanzeige abzuschmettern, die politisch nicht opportun war. Mittlerweile beschäftigt sich allerdings eine Sonderabteilung bei der Bundesanwaltschaft mit diesen Fällen, es hat sich etwas getan, wenn auch noch nicht genug.

China, Russland und die USA beteiligen sich nicht am Rom-Statut – damit kann es doch auf Dauer nicht funktionieren.

Viele sagen: Lasst uns das perfekte System internationaler Strafjustiz bauen. Wir hingegen, die wir vor allem mit den Opfern schwerster Menschenrechtsverletzungen zu tun haben, meinen: Lasst uns das bruchstückhafte Recht so gut wie möglich nutzen und hoffen, dass es eine Dynamik entfaltet, die andere Länder dazu bringt, sich diesen Standards anzuschliessen, auch, wenn sie ihren Interessen entgegenstehen.

Die Arbeit des Gerichts in Den Haag hat bislang eine Milliarde Dollar gekostet. Kritiker sagen, mit dem Bau von Brunnen und Schulen wäre mehr geholfen.

Internationale Institutionen müssen auf Effizienz geprüft werden. Nur darf man nicht vergessen, dass seit den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen 60 Jahre vergangen sind, ehe die damals entstandene Idee, solche Verbrechen bestrafen zu können, in eine operable Realität umgesetzt wurde.

Kürzlich wurde Nelson Mandela mit weltweiter Anteilnahme zu Grabe getragen. Sein Rezept war: versöhnen statt verfolgen.

Das mag wichtig gewesen sein, um einen geordneten Übergang von der Apartheid zur Demokratie zu organisieren. Dennoch fühlten sich Tausende von Menschen an den Rand gedrängt, die unter der Apartheid gelitten haben. Sie haben sich in der Nichtregierungsorganisation "Khulumani" zusammengeschlossen und kämpfen etwa mit Entschädigungsklagen in den USA dafür, dass die Schergen doch noch strafrechtlich belangt und sie selbst angemessen entschädigt werden.

Dann hört die Vergangenheit nie auf.

So argumentieren gern auch Firmen, die von der Apartheid oder Militärregimen wie in Argentinien profitiert haben: Lassen wir’s, das sind doch olle Kamellen. Nein. Wenn beispielsweise ein Vater in Buenos Aires vor 35 Jahren spurlos verschwunden ist, dann lebten oft drei Generationen in völliger Ungewissheit, die Eltern, die Frau, die Kinder. Von der materiellen Situation ganz zu schweigen. Für diese Menschen ist die Vergangenheit überhaupt nicht vergangen.

Der linke Berliner Rechtsprofessor Uwe Wesel fragt: "Ist die Erforschung von Wahrheit nicht eher die Aufgabe von Historikern als von Gerichten?"

Das sehe ich anders. Jeder beschäftigt sich auf seine Art mit Unrecht, als Künstler, als Schriftsteller, als Historiker, ich eben als Jurist. Im besten Fall befruchtet sich das gegenseitig.

 

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