Jetzt braucht es ein Referendum

22. März 2018

Sarah Schmalz, WOZ

Man kann es nicht anders sagen: Die Frühlingssession, die vergangenen Freitag in Bern zu Ende gegangen ist, war ein sozialpolitisches Debakel.

Da war etwa die Reform der Ergänzungsleistungen, die der Nationalrat zu Ende beriet: 500 Millionen Franken will die Mehrheit aus SVP und FDP sparen, die Vorlage des Bundesrats hatte Einsparungen von 200 Millionen vorgesehen. Die Debatte war hässlich, die rechte Nationalratsmehrheit trat schamlos nach unten. Sie beschloss eine rigide Lebensführungskontrolle der Versicherten und beschränkte die von Fachleuten seit Jahren geforderte Erhöhung der Mietzinsmaxima auf ein zynisches Minimum.

Verachtung brachten die Rechten nicht nur den Versicherten entgegen, sondern auch den Frauen: Diese müssen nach dieser Session weiter darauf warten, dass die Lohngleichheit gesetzlich verankert wird. Der Ständerat hat eine entsprechende Vorlage an seine Kommission zurückgewiesen: Sie möge doch bitte ein Modell der Selbstdeklaration prüfen.

Verwundern muss einen das alles nicht: Seit gut zwei Jahren haben die Rechten in Bern die Mehrheit. Während sie sich in der ersten Legislaturhälfte noch mit Mitte-links-Kompromissen aus der letzten Legislatur herumschlagen mussten, ist der Schalter mittlerweile umgelegt: In den sozialpolitischen Kommissionen dominieren nun Leute wie Gerhard Pfister (CVP) oder Thomas Aeschi (SVP), die von ihren Parteien an die sozialpolitischen Hebel gesetzt wurden, um an der Entsolidarisierung der Gesellschaft zu arbeiten.

Beflügelt wurden die Rechten vom Erfolg bei der Volksabstimmung über die Altersvorsorge. Seither peitschen sie eine Politik im Sinne der Finanzlobby und der Versicherer durchs Parlament. Um die Versicherten selber wird dabei eine immer schärfere Misstrauensdebatte geführt. Dasselbe Parlament schont dabei die Reichen: Ein strengeres Steuerstrafrecht hat es in dieser Legislatur mehrfach abgelehnt.

Die neue Dynamik zeigt sich nirgends so deutlich wie beim Gesetz zur Observation von SozialversicherungsbezügerInnen, das das Parlament in der Frühlingssession in Rekordzeit zu Ende beraten hat. Kommt es zum Tragen, können Versicherer künftig fast nach Belieben spionieren. Das Gesetz gibt SozialdetektivInnen mehr Kompetenzen, als der Nachrichtendienst für die Bekämpfung von Terrorismus erhalten hat. GPS-Tracker, Drohnen, Observationen von privaten Räumen: alles kein Problem.

Die Versicherungen haben kräftig für das Gesetz lobbyiert. Ihre VertreterInnen im Parlament setzten emsig die schärfste Version um. Man kann sich nur darüber wundern, schliesslich wurde die Schweiz 2016 vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gerügt, weil sie Observationen ohne entsprechende grundrechtskonforme Grundlagen zugelassen hatte.

Und nun verabschiedet das Parlament eine Vorlage, die derart unverhältnismässig ist, dass man sich fragen muss, ob die BefürworterInnen die Privatsphäre mutwillig opfern- oder ob ihnen das Bewusstsein dafür komplett abgeht. Und nicht nur das: Wurde vor Strassburg «nur» bei der Invaliden- und der Unfallversicherung observiert, gilt das neue Gesetz nun für alle Sozialversicherungen, also auch für die AHV, die Kranken- und die Arbeitslosenversicherung. Vom neuen Gesetz betroffen sind also: alle. Die Schweiz stellt ihre BürgerInnen unter Generalverdacht.

Die Linke handelte fahrlässig, würde sie gegen eine solche Vorlage nicht das Referendum ergreifen. Lässt man es zu, dass das Gesetz ohne Widerstand eingeführt wird, verschenkt man sich eine dringliche Debatte: über das Verhältnis des Staats zu den BürgerInnen und über gesellschaftliche Solidarität.

Eine solche Auseinandersetzung braucht es gerade zum jetzigen Zeitpunkt. In Bern stehen noch in dieser Legislatur grosse sozialpolitische Debatten an: Die IV-Reform kommt im Sommer ins Parlament, und auch die AHV soll reformiert werden. Die Rechten stehen bereit. Die Linke sollte bis dahin ihr soziales Profil schärfen- und der sozialpolitischen Debatte mit dem Referendum einen eigenen Stempel aufdrücken.

 

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