«Lex Wasserfallen» im grossen Stil gegen Demonstranten

8. September 2011

Dinu Gautier, Der Bund

Die Polizei wendete am Sonntag gegen Aktivisten, die gegen das AKW Mühleberg demonstrierten, systematisch den Wegweisungsartikel an. Rechtsexperten zweifeln an der Verhältnismässigkeit.

Sonntagabend in den Zellen der Kantonspolizei im Parkhaus Neufeld: 26 anlässlich einer Sitzblockade in der Nähe des AKW Mühleberg verhaftete Atomkraftgegner erhalten eine Verfügung, die es in sich hat: Es wird ihnen bis Ende Monat verboten, die «bezeichneten Gebiete der Gemeinden Mühleberg, Radelfingen und Wohlen zu betreten». Sie erhalten eine Satellitenaufnahme der Region mit einem rot eingezeichneten «Fernhalte-Perimeter»: Er reicht im Westen bis zur Saane, im Osten bis in die Mitte des Wohlensees. Insgesamt rund 12 Quadratkilometer. Die Polizei stützt sich auf die sogenannte Lex Wasserfallen, also den Wegweisungsartikel im Berner Polizeigesetz. Gedacht war der in erster Linie, um Szenenbildungen von Randständigen etwa im Berner Bahnhof zu verhindern. Jetzt wird er erstmals im grossen Stil gegen Demonstranten angewendet. Bisher war es im Rahmen von Kundgebungen lediglich zu einzelnen Wegweisungen gekommen. Etwa beschränkt auf einen Tag und auf die Berner Innenstadt.

Vermuteter Gesetzesmissbrauch

Stadträtin Rahel Ruch (JA) ist eine der am Sonntag verhafteten Personen. «Das ist ein totaler Missbrauch dieses Gesetzes», sagt Ruch. Werde der Artikel so verwendet, könne die Polizei die Versammlungsfreiheit dauerhaft ausser Kraft setzen. Zusammen mit weiteren Weggewiesenen will Ruch nun Beschwerde einlegen. Im konkreten Fall wird das aber nichts bringen. Eine Beschwerde hat laut Gesetz keine aufschiebende Wirkung.

Pierre Tschannen, Professor für Staats- und Verwaltungsrecht an der Universität Bern, hat auf Anfrage des «Bund» die Verfügung angeschaut. Er setzt ein Fragezeichen bei deren Verhältnismässigkeit. Zwar sei eine Störung der öffentlichen Ordnung bei einer Sitzblockade durchaus gegeben, dass den Aktivisten aber jegliches Betreten des Gebietes verboten wurde, hält Tschannen für «sehr pauschal». Besser wäre es, genau zu bestimmen, zu welchem Zweck sie den Perimeter nicht betreten dürften, so Tschannen: «Dass etwa jemand ein in der Nähe der Sitzblockade abgestelltes Velo nicht mehr abholen darf, das dürfte doch wohl zu weit gehen», so der Professor weiter.

Polizei räumt Unüblichkeit ein

Polizeisprecherin Florie Marion räumt ein, dass die «Dauer und der Umfang der Fernhalteverfügung sicher unüblich» seien. Es gehe darum, eine erneute Blockade der AKW-Zufahrtswege zu verhindern. Die lange Dauer der Massnahme könne sie aus «taktischen Gründen» nicht kommentieren. Die räumliche Ausdehnung ergebe sich aus den AKW-Zufahrtswegen, die durch die genannten Gemeinden führten.

Neben der Wegweisung müssen die Verhafteten vom Sonntag mit Anzeigen rechnen: wegen Ungehorsam gegen eine amtliche Verfügung, Störung des öffentlichen Verkehrs sowie Störung von Betrieben, die der Allgemeinheit dienen. Im Gegensatz zu zwei Unterschriftensammlern der GSoA, die sich kürzlich auf dem Polizeiposten nackt ausziehen mussten, durften die Mühleberg-Gegner ihre Kleider übrigens anbehalten. Sie wurden fotografiert, mit Mineralwasser und Schokoriegeln versorgt und im Laufe des Abends freigelassen.

 

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