«Ein dramatischer Rückzug der Justiz»

3. August 2014

Ca­the­ri­ne Boss, Sonn­tags­zei­tung

Bun­des­rich­ter Ni­k­laus Ober­hol­zer über die Macht der Staats­an­wäl­te

Ni­k­laus Ober­hol­zer, 60, ist Bun­des­rich­ter in Lau­sanne. Zu­vor war er An­klä­ger im Kan­ton St. Gal­len, dann An­walt, spä­ter Kan­tons­rich­ter. Er ist Mit­glied der SP.

Heu­te sind Staats­an­wäl­te in mehr als 95 Pro­zent der Fäl­le nicht nur Er­mitt­ler, son­dern gleich auch Rich­ter. Ist das gut so?

Es macht mir Sor­gen. Es ist ein dra­ma­ti­scher Rück­zug der Jus­tiz. Ei­gent­lich müss­te es doch so sein: Es gibt ei­ne un­ter­su­chen­de Be­hör­de, die vor Ge­richt den Stand­punkt der Straf­ver­fol­ger ein­nimmt. Dann gibt es das Ge­richt, das bei­de Sei­ten an­hört und un­par­tei­isch ent­schei­det. Doch heu­te er­le­digt der An­klä­ger gleich auch die Ar­beit des Rich­ters. Der Ge­richts­pro­zess ist heu­te die sel­te­ne Aus­nah­me. Das macht für die ein­fa­chen Mas­sen­de­lik­te Sinn, weil es ef­fi­zi­ent ist. Aber bei heik­len Fäl­len, bei de­nen es um schwie­ri­ge Be­weis- und Rechts­fra­gen oder um ho­he Stra­fen geht - Ge­fäng­nis­stra­fen bis zu sechs Mo­na­ten -, ist es rechts­staat­lich pro­ble­ma­tisch.

War­um? Es ist ef­fi­zi­ent.

Man kann es von zwei Sei­ten an­schau­en. Wenn der Be­trof­fe­ne den Straf­be­fehl tat­säch­lich ver­steht und ak­zep­tiert, ist es ei­ne ef­fi­zi­en­te Er­le­di­gung. An­de­rer­seits ist es aber doch so, dass die Staats­an­wäl­te Er­mitt­ler sind und des­halb im­mer ei­nen Par­tei­stand­punkt ver­tre­ten. Das passt nicht recht zu ei­ner Rich­ter­funk­ti­on.

Rück­zug der Jus­tiz, sa­gen Sie. Die Rich­ter ha­ben an Macht ver­lo­ren. heisst das.

Ja, ein­deu­tig. Wenn ich 35 Jah­re zu­rück­bli­cke, se­he ich, wie sehr sich das Jus­tiz­sys­tem ver­än­dert hat. Da­mals hat­ten die Rich­ter die De­fi­ni­ti­ons­macht über die Aus­le­gung von Ge­set­zen. Die Auf­ga­be der Staats­an­wäl­te war es zu er­mit­teln. Straf­be­feh­le gab es kaum, nur in klei­nen Fäl­len. Heu­te liegt die Macht ein­deu­tig bei der Staats­an­walt­schaft, weil sie ein der­ar­ti­ges Mass an Fäl­len selbst er­le­digt.

Wer hat­te In­ter­es­se an die­sem Wan­del?

Die Po­li­tik hat vor al­lem die Ef­fi­zi­enz im Kopf. Die in­di­vi­du­el­len Rech­te ei­nes ver­däch­tig­ten Tä­ters be­hin­dern den kur­zen Pro­zess. Zu­dem ha­ben die Staats­an­wäl­te bei der Aus­ar­bei­tung der neu­en Straf­pro­zess­ord­nung ih­re Ide­en ein­ge­bracht.

Wie ha­ben die Staats­an­wäl­te das ge­macht?

Sie sind un­ter­ein­an­der ver­netzt. Sie ha­ben mit­ein­an­der be­spro­chen, wie für sie ein ef­fi­zi­en­tes Straf­ver­fol­gungs­sys­tem aus­se­hen wür­de. Das hat­te gros­sen Ein­fluss. Da ma­che ich ih­nen auch gar kei­nen Vor­wurf. Die Rich­ter hin­ge­gen - und auch die An­walt­schaft - ha­ben es ver­schla­fen.

War­um sind Ge­richts­pro­zes­se wich­tig?

Weil es ge­ra­de im Jus­tiz­sys­tem Trans­pa­renz braucht. Die Jus­tiz ist kein Pri­vat­un­ter­neh­men. Sie ist ei­ne der drei Staats­ge­wal­ten und da­mit ge­gen­über der Öf­fent­lich­keit zur Re­chen­schaft ver­pflich­tet. Mit den über 90 Pro­zent Straf­be­feh­len, die nur in sel­te­nen Fäl­len öf­fent­lich wer­den, exis­tiert ei­ne sol­che Trans­pa­renz nicht. Das ist gra­vie­rend.

Was schla­gen Sie vor?

Es wür­de si­cher hel­fen, wenn Staats­an­wäl­te nur noch Rich­ter sein dürf­ten, wenn es um stan­dar­di­sier­te Ba­ga­tell­fäl­le und nur noch um Stra­fen bis drei Mo­na­te gin­ge. Dar­un­ter wür­den fast nur die Mas­sen­de­lik­te fal­len, die un­pro­ble­ma­tisch sind.

Ge­nau das woll­te der Bun­des­rat auch, doch das Par­la­ment stellt sich da­ge­gen.

Das ver­wun­dert mich nicht. Die Ge­rich­te wer­den in der Po­li­tik als Stö­ren­frie­de ge­se­hen, als Ver­hin­de­rer der ef­fi­zi­en­ten Straf­ver­fol­gung. Auch die Öf­fent­lich­keit sieht oft den Nut­zen nicht. So­lan­ge man nicht be­trof­fen ist, hat man das Ge­fühl, die Jus­tiz sei ein über­flüs­si­ger Lu­xus. Erst wer in die Müh­len ei­nes Ver­fah­rens kommt, lernt die Un­ab­hän­gig­keit der Jus­tiz zu schät­zen.

 

Webauftritt gestaltet mit YAML (CSS Framework), Contao 3.5.27 (Content Management System) und PHPList (Newsletter Engine)

Copyright © 2006-2025 by grundrechte.ch