Spiegel online
Der Europäische Gerichtshof will keine anlasslose Vorratsdatenspeicherung erlauben. Im aktuellen Urteil definiert es zwar Ausnahmen. Experten bezweifeln nun aber, ob die deutsche Variante die Anforderungen erfüllt.
Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat sich gegen eine "allgemeine und unterschiedslose" Vorratsdatenspeicherung in der Europäischen Union ausgesprochen. Sie lasse "sehr genaue Schlüsse auf das Privatleben" der Menschen zu, urteilte der EuGH in einem Mittwoch in Luxemburg verkündeten Urteil.
Ausnahmen sind demnach nur bei konkreter Bedrohung der öffentlichen Sicherheit und zur Bekämpfung schwerer Straftaten weiter möglich. Bei der Beurteilung, wer Personen sind, die mit ihren erfassten Daten zur Bekämpfung schwerer Straftaten beitragen könnten, müssten objektive Kriterien gelten.
Der Umfang der gespeicherten Informationen müsse sich ausserdem auf "das absolut Notwendige" beschränken. Der EuGH konkretisierte in seinem Urteil, dass Gesetze zur Vorratsdatenspeicherung folgende Punkte einschränken müssten:
Kategorien von zu speichernden Daten
Erfasste Kommunikationsmittel
Betroffene Personen
Dauer der Speicherung
Das Gericht befand ausserdem, dass Behörden nur Zugriff auf die Daten bekommen dürfen, wenn eine "unabhängige Stelle" das kontrolliert. Die Speicherung der Daten müsse innerhalb der EU passieren. Entsprechende Gesetze müssten "klar und präzise sein und Garantien enthalten, um Daten vor Missbrauchsrisiken zu schützen".
Ein schwedisches und ein britisches Gericht hatten den EuGH gefragt, ob eine Speicherpflicht gegen EU-Recht verstosse (Rechtssachen C-203/15 und C-698/15). Auf ihre Anfragen hin urteilte das Gericht nun.
Auswirkungen auf deutsches Gesetz noch unklar
In Deutschland hat die Bundesregierung 2015 ein neues Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung beschlossen. Telekommunikationsanbieter werden darin verpflichtet, Internet- und Telefonverkehrsdaten jedes Bürgers zehn Wochen lang zu speichern, also etwa die Informationen, wer wann mit wem telefoniert hat.
Auch die Standortdaten von Handys speichern die Firmen vier Wochen lang. Das ergibt Bewegungsprofile, ohne konkreten Anlass, vorgehalten nur für den Fall, dass die Polizei sie benötigt. Den Abruf der Informationen muss in Deutschland ohnehin laut Gesetz ein Richter erlauben. Die Inhalte der Kommunikation sollen nicht dokumentiert werden.
Der EuGH hatte bereits im April 2014 strenge Vorgaben zur Vorratsdatenspeicherung gemacht. Damals hatte es eine EU-Richtlinie zum Thema für ungültig erklärt. Durch das neue Urteil könnte es sein, dass Deutschland sein Gesetz ein weiteres Mal überarbeiten muss. Die Formulierung in der bisher verfügbaren Pressemitteilung des EuGH, Gesetze müssten "klar und präzise" formuliert sein, bietet aber Interpretationsspielraum.
Reaktionen auf das EuGH-Urteil
Ein Sprecher des Justizministeriums sagte SPIEGEL ONLINE in einer ersten Reaktion, man werde das Urteil sorgfältig prüfen: "Die Bundesregierung hält das deutsche Gesetz aber weiter für verfassungs- und europarechtskonform."
Der Netz-Experte und Richter Ulf Buermeyer sieht das anders. Zwar schliesse das neue EuGH-Urteil eine Vorratsdatenspeicherung nicht kategorisch aus. "Aber einige wesentliche Aspekte des gerade mal ein Jahr alten deutschen Gesetzes dürften mit den neuen Anforderungen des EuGH nicht vereinbar sein", so Buermeyer auf Anfrage von SPIEGEL ONLINE.
Eine Hürde sei beispielsweise, dass laut EuGH nur Kommunikationsdaten von Menschen gespeichert werden dürften, die mit einer schweren Straftat in Zusammenhang stehen. "Das ist mit der Konzeption der deutschen Vorratsdatenspeicherung nicht vereinbar: Sie erfasst die Daten aller Menschen." Problematisch für den Gesetzgeber sei nun auch, dass in Deutschland unter bestimmten Umständen eine Datenabfrage auch bei wenig gravierenden Straftaten möglich sei. Das schliesse der EuGH klar aus, sagte Buermeyer.
Auf Twitter freuten sich Netzaktivsten wie der Verein Digitale Gesellschaft kurz nach der Urteilsverkündung schon über das Urteil und sahen ein Ende des deutschen Gesetzes nahe. Kristos Thingilouthis, politischer Geschäftsführer der Piratenpartei schrieb gar schon von einem "schönen Weihnachtsgeschenk".
Das deutsche Bundesverfassungsgericht ist aktuell noch mit Verfassungsbeschwerden befasst, die Gegner der Vorratsdatenspeicherung angestrengt haben. Zwar hatte das Gericht im Sommer dieses Jahres zum zweiten Mal Eilanträge für einen sofortigen Stopp des Gesetzes abgelehnt. Vom Tisch ist die Sache aber noch nicht. Es steht ein noch nicht terminiertes Hauptsacheverfahren aus. Über den Erfolg der Beschwerden sagt die Ablehnung der Eilanträge noch nichts aus.
Meinhard Starostik, der den Verein Digitalcourage als Anwalt im Vorgehen gegen die Vorratsdatenspeicherung vor dem Bundesverfassungsgericht vertritt, sagte gegenüber SPIEGEL ONLINE: "Ich bin sehr zuversichtlich, dass die deutsche Vorratsdatenspeicherung in Karlsruhe keinen Bestand haben wird".
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